Tanz - Verständnis

Für mich waren und bleiben die oben angeführten Begegnungen wegweisend und inspirierend, Meditatives Tanzen und Psychotherapie miteinander zu verbinden. Ich erkannte in den Meditativen Tänzen die Chance, sie als Weg der Bewusstwerdung zu verstehen. Selbstverständlich spiegeln sich in meinem Verständnis des Meditativen Tanzes nicht nur Begegnungen wieder, sondern mein eigener Weg mit seinen verschiedenen Ausbildungen und Neigungen. Und so fließt in meinen Umgang mit den Meditativen Tänzen vieles ein, was mich im Laufe meines persönlichen und beruflichen Weges geprägt hat. Ganz besonders die Sensibilisierung des Körperbewusstseins, die Weiterentwicklung des Ich- Bewusstseins (Individuation) und das Öffnen für spirituelle Erfahrungen.

Unter Meditativem Tanzen verstehe ich ein Umkreisen der Mitte, bei dem sich ereignen kann, was Karlfried Graf Dürkheim  ein Zur-Mitte-gegangen-Werden nennt. Sich öffnen für den Tanz und seinen Spiegel in unserer Seele.
In dieser kurzen Umschreibung erscheinen zwei wesentliche Merkmale, die Ausrichtung und die Zentrierung. Es macht einen großen Unterschied, ob ich um mich selber, um mein eigenes Ego kreise oder ob ich auf ein über mich hinaus weisendes Zentrum ausgerichtet bin. Um mich dabei nicht in diesem Außer-Mir zu verlieren, bedarf es der inneren Zentrierung. Darunter verstehe ich, ganz bei sich zu sein, sich auch im Tanzen körperlich zu spüren und zu erleben.

Beides ist also wichtig: die äußere Mitte, Sinnbild für das alles umfassende Zentrum, wie auch die innere Mitte (des Körpererlebens). Im Umkreisen der äußeren Mitte und im gleichzeitigen Präsent-Sein im Körperbewusstsein kann sich ein Angesprochen-Werden auf einer tieferen Bewusstseinsschicht ereignen, die ich im Sinne Karlfried Graf Dürkheims ein Geschenk des Zur-Mitte-Hingegangen-Werdens nennen würde.
Geschenk, weil dieses Erleben nicht willentlich hervorzurufen ist. Meditatives Tanzen bedeutet demnach ein Sich-Bereit-Halten für ein mögliches tieferes Erleben. Das Meditative Tanzen ist ein Übungsweg, auf dem die vorgegebenen Tanzstrukturen helfen könnten, die innere Sammlung zu finden und sich nicht von tausenderlei Anforderungen ablenken zu lassen. In vielen Kulturen begegnen wir ähnlich strukturierten Übungswegen, bei denen Bewegungen, Haltungen oder Sprachformeln beständig wiederholt werden, um sich in eine andere Bewusstseinsschicht zu vertiefen. Das ist der eigentliche Sinn der Wiederholung: sich dem Verborgenen zu nähern und in außerordentlichen Augenblicken von ihm berührt zu werden.
Es können ganz unterschiedliche Wesenheiten sein, von denen die Tanzenden angesprochen werden. Die Musik, die Tanzrichtung, die Tanzschritte, die Raumfiguren, die Mittanzenden oder das Umkreisen der Mitte.
Was es auch immer sein, was uns anspricht, kommt aus einer unbewussten Schicht und möchte von unserem Bewusstsein verstanden und aufgenommen werden. Meditatives Tanzen ist demnach nicht nur vergnüglicher Selbstzweck, Freude und Spaß am Tanzen zu haben, sondern darüber hinaus ein Wechselspiel von Innen und Außen, ein Übungsweg zur Individuation, der Selbstwerdung.
Dabei kann die äußere Bewegung nach innen wirken und genau mit jenen inneren Fragen korrespondieren, welche die Tanzenden bewegen. Das innere Umgetrieben-Werden kann durch das Tanzen in eine innere Ruhe und Gelassenheit übergehen. Was zuvor unergründbar zu sein schien, steigt auf einmal klar und verständlich auf. Mit sich herumgetragene Fragen beantworten sich wie von selbst.
Aus dem indischen Weisheitsbuch, den Upanischaden, stammt ein Wissen, welches das Verständnis des Meditativen Tanzes trefflich wiedergibt: „Wenn der Tanz beginnt, ist da nur der Tanz und kein(e) Tänzer(in) mehr.“ * Die Befangenheit in uns selbst löst sich auf im Tanz und wir könnten Anteil nehmen am Wesentlichen.
Was hier so einfach klingt, bedeutet in der Praxis des Übens ein immerwährendes Ringen mit der eigenen Unachtsamkeit. Immer wieder schweifen die Gedanken ab. Das Stolpern über die eigenen Füße holt uns wieder zurück und macht uns aufmerksam, dass wir nicht mehr im Tanz waren, sondern uns haben ablenken lassen. Sich auf die vorgegebenen Schritte und Raumwege einzulassen, erfordert Achtsamkeit. Damit wird der Gefahr entgegengewirkt, abzuschweifen oder sich zu verlieren. Die zu erfüllende Form konfrontiert uns mit der Realität. Die Wiederholung ermöglicht uns innerhalb des Vorgegebenen das Unerkennbare durchleuchten zu lassen.
Wie alle meditativen Praktiken ist auch das Meditative Tanzen ein strenger Übungsweg. Streng, weil er unbarmherzig hinweist, wenn wir nicht beim Tanzen sind. Alle entsprechenden Übungswege haben das gleiche Ziel: Innen und Außen miteinander zu Einem  zu verbinden. Damit etwas zu einer spirituellen Erfahrung werden kann, müssen die Einheiten auf dem Übungsweg kurz und wiederholbar sein. Alles andere überfordert den Geist und fordert den Verstand hervor.
Auch diese eine Erkenntnis, die sich in vielen Kulturen wiederfinden lässt, finden wir im Meditativen Tanzen wieder. Es sind nicht die komplizierten Formen oder ausgefeilten Predigten, die zu einer spirituellen Erfahrung werden können. Es geht darum, die Begrenzungen des rationalen Bewusstseins zu verlassen und zu einem Wissen zu gelangen, das aus einer Tiefe kommt, für das es keine individuellen Erklärungen gibt.
Wenn etwas die religiöse Not unserer Zeit durchbrechen kann, dann sind es für die Suchenden auf – und übernehmbare spirituelle Übungswege, wie das Meditative Tanzen es sein kann. Das Anschauen und das Miterleben einer Tanzdarstellung mag nicht nur das Auge ansprechen. Es ist durchaus möglich, dass auch das Herz dabei aufgeht. Aber das passive Miterleben wird nicht zum eigenen, nachvollziehbaren Erleben und verändert somit auch nicht das Bewusstsein. Was fehlt, ist das Körpererleben, das vom Geist durchdrungen wird.
Hier rührt auch meine Kritik am „sakralen Tanz“ her. Die Verbannung des Körperlichen aus dem Kirchenraum wird nicht dadurch aufgehoben, dass im Altarraum getanzt wird. Dies ist sicherlich ein wichtiger Schritt. Doch entscheidend wäre, dass das Tanzen als eine Form des Gebets von allen Menschen aufgenommen und geübt wird und nicht nur von einigen wenigen Darstellenden.    weiter
 
 
 
 

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