Projektionen
 
Bei den Vorbereitungen auf ein Theaterstück stieß ich auf das Buch Keltische Folksongs. Darin fand ich neben anderen guten Songs das Lied von Reynardine. Es elektrisierte mich geradezu, obgleich es noch nie gehört hatte. Ich hatte zunächst nur  den Text vor mir. Die Melodie dazu war nicht einfach. Ich erschloß sie mir mühsam mit der Gitarre. Und dann geriet ich in ein höchst merkwürdiges Abenteuer.
Ich fand die Handlung einfach berückend: ein Bauernbursche wandert spät abends durch den Wald und begegnet einer wunderschönen jungen Frau, welche sich plötzlich (in Vers 3) verwandelt und für einen Moment eine Fuchsgestalt annimmt. Offenbar ist sie sehr einsam und über ihr Schicksal verzweifelt, das darin besteht, sozusagen verwunschen dort droben am kalten Bergeshang zu leben. Sie wirft sich ihm geradezu in die Arme und er versucht, sie zu trösten und zu halten. Doch geheimnisvolle Eltern halten das Mädchen in einem gefährlichen Bann. Das ganze wirkt wie ein geheimnisvolles Spiel, das für beide Seiten tödlich werden kann. 
Mit dem Schlußvers konnte ich erst einmal gar nichts anfangen, ich entdeckte ihn ohnehin erst später, da er auf der anderen Seite abgedruckt war. Warum ist hier eine Warnung an junge Frauen gerichtet? Ich legte es mir so aus, daß die Mädchen nicht auf denselben Weg geraten sollten wie die unglückliche Fremde droben am Berg.  Ich sollte Reynardine bald besser kennenlernen......

Freunde luden uns ein, in ihrem Haus im Baerenthal die Zeit von Sylvester bis Dreikönige zu verbringen. Es waren die Rauhnächte in jeder Hinsicht; der Strom fiel einmal aus, der Schnee lag hoch und wurde mit jedem Tag höher. Meine Frau und ich stapften tagsüber durch den verschneiten Wald und wanderten durch das Nordelsaß. Saßen abends sassen wir bei Bekannten, einem kreativen Hotelbesitzer und bewunderten seine Höhlen und Grotten, welche die Gasträume durchzogen. Und spät nachts, zwischen den Waldrand, zwischen den schweigenden Bäumen im Schnee, kein laut außer unseren Schritten, erschloß sich mir das Lied von Reynardine näher. Inzwischen konnte ich es auch ganz passabel singen. Hier war es, daß ich den Berghang deutlich vor mir spürte, den kalten Bergeswald wahrnahm und die junge Frau näher vor mir sah. Während ich sie anblickte und den Refrain in mir spürte: "I´m glad to see you here,...." verwandelte sich die schöne Frau, ihre Augen wurden gelblich wie Amber, ihre Wangen wurden bleich und aus der Schönen wurde ganz deutlich eine Gestalt mit fuchsartigen Zügen.....
Und dann fiel sie mir in die Arme ...mit einer Art von Schrecken in das sich zugegebenermaßen auch Entzücken gemischt hatte, unterbrach ich das Bild und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Ich hatte nicht nur die Gitarre und die Lieder dabei, sondern auch meinen Laptop und jede Menge Alltagsarbeit. Wenn ich dann zwischendurch weiter am Lied übte, war mir etwas unbehaglich und ich hatte den Eindruck, ich müßte am Lied etwas übersehen haben.
Ich suchte noch einmal nach und fand die Stelle in jenem Vers, wo es heißt: "but I´ll be in my castle... " - besaß der harmlose Bauernbursche etwa ein Schloß? Verfügte er ebenfalls über eine zweite Identität? War es möglich, daß er die Liebesbegegnung mit der Fuchsfrau und Gestaltwandlerin als gleich starke Figur erlebte? Darin lag für mich ein gewisses Moment der ausgleichenden Gerechtigkeit und es sah so aus, als würde der junge Bursche aus Pomroy die Begegnung unbeschadet überstehen. 
An dieser Stelle muß erwähnt werden, daß die Fuchsgeister in Asien zumindest einen ziemlich fragwürdigen Ruf haben. Sie stehlen den Männern die Lebenskraft oder bringen sie sogar ums Leben, indem sie jene verleiten, sich im Moor zu verirren. In meinem Kopf formten sich Thesen wie etwa. "Der Fuchsgeist in der europäischen Tradition - ein Freund und Helfer"; was ja tatsächlich in vielen europäischen Märchen der Fall ist.
Die schöne junge Frau schien auf diese Apologie nur gewartet zu haben, bei jedem Liedvers trat sie konkreter hervor. Es beschäftigte mich dann schon zu sehr. Zum Glück hatte die Realität bei unserer Rückkehr genügend andere - und sehr harte - Abenteuer zu bieten, so daß ich das Lied erst einmal ganz weit nach hinten verbannte und mich den Aufgaben widmete,  die anstanden. Als meine Gedanken nach einiger Zeit wieder abends in Richtung Bergwald marschierten; beschloß ich Reynardine loszuwerden. Therapeutisches Ausagieren war angesagt. Daher schrieb ich eine Textfassung, in welcher ich versuchte, das Lied etwas zu entschärfen, indem ich es in den humoristischen Bereich zog. Das hatte Erfolg, die geheimnisvolle Gestalt verzog sich (schmollend?) etwas mehr nach oben ins Gebirge.

Am Anfang des Jahres 1999 trat sie mir jedoch wieder in den Weg. Das Kulturamt Weinstadt übertrug mir die ehrenhafte Aufgabe, die Eröffnungsveranstaltung der 16. Märchentage zu gestalten. Das Leitthema war: Magische Orte und phantastische Welten. Ohne Frage, zu diesem Motto gehörten Liedelemente als Untermalung. Also sprach ich zwei Sänger an, von denen der Musiker Matthias Graf mir zu sagte. Beim Durchsichten vieler Liedtexte stießen wir wieder auf Reynardine. Matthias und ich arbeiteten den Text noch einmal durch. Es erging ihm wie mir - kein Zweifel, diese geheimnisvolle Frau dort droben am Waldrand konnte einem jungen Kerl schon ganz schön zusetzen. 
Da ich bei solchen Vorbereitungen immer gern gründlich bin, durchsuchte ich das Internet nach Literatur oder Hinweisen zum Song. Schon der erste Fund machte mich stutzig. "In British and Irish traditions, there have been many songs written about Reynardine, a half man/half fox who wanders the hillsides..." 
Wie bitte? Ein Wesen, halb Mann halb Fuchs? .... da stimmte doch etwas nicht. Ich beschloß, weiterzusuchen. Bestimmt gab es noch weibliche Reynardines. Diese fand ich dann auch; aber inzwischen war klar geworden, daß das Lied selbst zumindest von einem männlichen Gestaltwandler ausgeht. Matthias mußt die Liedaussage noch einmal ganz von vorn angehen. Ich hatte eine psychologische Projektion erlebt, welche so weit ging, daß ich nicht nur die deutlichen Hinweise des Textes übersehen hatte, sondern auch meinem gesamten Umfeld meine Sicht aufgeprägt hatte. Noch einmal sah ich deutlich den Bergwald vor mir, die kleine, plötzlich fast verloren wirkende Gestalt des jungen Mädchens, welches bleich wurde und in Ohnmacht fiel. Und hörte das Kläffen eines großen Fuchses, welches wie ein Gelächter klang. Jetzt machten die Strophen komplett einen neuen Sinn

Und dennoch- da war schon wieder eine Art Magie im Spiel. Wenn sie auch nur ein schwaches Menschenwesen war, was suchte sie dann nachts draußen in diesem verrufenen Wald? 
In diesem Augenblick wurde mir klar, daß sie auch über ihre Art von Zauber verfügte. Und daß die Begegnung wiederum nicht in eine einseitige Faszination münden würde. Und nun stieß ich auf die Gedichte von Mary Antony. Mir wurde klar, daß in jedem Menschen etwas von der Qualität der Gestaltwandler steckt. Es ist ein archaisches altes Erbteil aus früherer Zeit. Unsere Vorfahren wußten davon, wenn sie von Werwölfen und Bärenhäutern sprachen. Aber keine Sorge, wenn wir verantwortlich mit dieser Gabe umgehen, brauchen wir keine Angst davor zu haben. Weder vor jener fremden Gestalt, welche uns in der Dämmerung entgegenkommt, noch vor der atavistischen Sehnsucht in uns selbst, die uns beschwört, nach draußen zu gehen und bisher nie Gewagtes, Neues zu versuchen.

Auf jeden Fall fühle ich mich inzwischen wohl hier am Berghang, im Hochgebirge, Ich habe mich in einem Tannendickicht wohnlich eingerichtet. Da ist es winters nicht so kalt wie in den Gemäuern der Schloßruine, wo ich normalerweise hause. Ich streife umher, wenn die Dämmerung beginnt. Ab und zu kommt mir auf dem Pfad am Waldrand eine Gestalt entgegen..... doch weder sie, noch ich brauchen uns jemals wieder zu fürchten.  Ich freu mich dich zu sehn, ich freu mich dich zu sehn.   weiter



 
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aktualisiert am 24.12.01

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